Dezember 2017: Auszug aus unserem Tagebuch
«Um 10.25 Uhr waren wir zurück in Banyo und hielten Ausschau nach unserem Patenkind Assiatou. Zum ersten Mal trafen wir sie im Haus ihrer Stiefmutter, wo sie mit ihren Geschwistern und weiteren Halbgeschwistern lebt, seit ihre eigene Mutter verstorben ist. Kurz vor der Unterkunft begrüsste uns der Vater. Er, der seine Tochter ihr ganzes Leben lang schon vernachlässigt. Locker lässig grüsste er uns, interessierte sich jedoch nicht weiter für uns und nahm sich auch keine Mühe, sich ausführlicher mit uns zu beschäftigen. Es kümmert ihn leider überhaupt nicht, was seine Kinder tun. Seine zweite Frau hat Assiatou und ihre Schwester nach dem Tod der eigenen Mutter bei sich aufgenommen. Trotz allem sind es nicht ihre eigenen Kinder. Sie schaut sicherlich gut, doch nicht so, als wenn es die eigenen wären. Vor allem auch, weil die finanziellen Mittel fehlen. Assiatou sass in der Hütte auf einem Holzstuhl, wirkte scheu, traurig und in sich gekehrt. Wie bereits im April auf unserer letzten Reise klagte sie über Bauchschmerzen. Ich konnte es nicht fassen – seit Monaten hatte sich nichts an ihrer Situation geändert. Die Stiefmutter und der Vater waren zwar mit ihr im Spital gewesen, doch als sie niemanden sahen, den sie kannten, waren sie wieder zurück gereist. Man kann es ihnen nicht übel nehmen: ihre Mentalität weiss nicht, dass man ein Spital betritt, sich nach zuständigem Personal erkundigt und die Krankheit schildert. Zudem sprechen beide ausschliesslich Dialekt und konnten sich nicht verständigen. Nebst Bauchschmerzen klagte das Mädchen zudem über Beinschmerzen. Und sie teilte zwischen dem Gespräch mit, sie wolle doch so gerne zur Schule gehen, wie wir es ihr versprochen hatten. Eine insgesamt sehr traurige Situation, die wir dringend korrigieren wollten. Zum ersten Mal hatten wir die Gelegenheit, näher nachzufragen, welche Geschwister von der gleichen Mutter wie Assiatou sind. Wir erfuhren, dass zwei ältere Schwestern bereits verheiratet sind. Zudem hat sie zwei ältere Brüder und drei jüngere Geschwister. Somit hatte ihre verstorbene Mutter 8 Kinder. Der Vater hatte bis vor dem Tod von Assiatous Mutter drei Frauen und nun erneut geheiratet. Ich sorgte mich wirklich sehr um Assiatou. So konnte es unmöglich weitergehen. Erneut intervenierte ich, dass das Mädchen ins Spital nach Mayo Darle gebracht wird, damit sie endlich richtig untersucht werden kann. Sie war extrem abgemagert, seit wir sie das letzte Mal gesehen hatten. So konnte es nicht weitergehen! Assiatous Mutter willigte ein, das Mädchen am folgenden Tag zu uns ins Spital bringen. Zuerst musste sie den Vater um Erlaubnis fragen, obwohl wir ihr direkt das Geld für den Transport in die Hand drückten. Die Frau hat – wie so viele hier – überhaupt keine Rechte und keine eigene Stimme. Etwas eigenes Geld verdient sie sich mit Pofpof verkaufen, wovon sie uns je ein Stück direkt und noch warm aus dem Öl frittiert anbot. Mit dieser kleinen Einnahmequelle kann sie womöglich knapp das Schulgeld für ihre eigenen Kinder finanzieren, mehr liegt nicht drin. Der Vater ist – wie so oft in dieser Gegend – sicherlich auch hier nur der Erzeuger der Kinder. Die Stiefmutter ergriff die Chance, um Hilfe für ihre eigene Tochter Hadisatou zu bekommen, welche am Rücken eine Verformung eines Wirbels aufwies. Wir ermunterten sie, mit beiden Mädchen ins Spital zu kommen und sie untersuchen zu lassen..
(Einen Tag später:) ...Als wir zurück zum Spital kamen, rief uns Schwester Candida zu sich. Denn mittlerweile waren Assiatou mit ihrer Stiefmutter und ihrer Halbschwester angereist gekommen. Schwester Candida übernahm die erste Untersuchung. Sie mass die Temperatur und erstellte für die zwei Mädchen ihre Patientenkarten. Die vorherigen Unterlagen von Assiatou waren leider irgendwo untergegangen, nachdem ihre Mutter verstorben war. Wie unglücklich, denn wir hatten schon viel Zeit und Mühe eingesetzt und das Kind vor einiger Zeit zu einem Spezialisten in Bamenda geschickt. Die Befunde waren verloren gegangen. Wie auch immer, der neue und sehr kompetente, junge Arzt des Spitals setzte sich sofort für Assiatou und unser Anliegen ein, sie genauer zu untersuchen. Als ich ihm die Hintergrundgeschichte des Kindes erzählte und dazu Bilder auf dem iPad hervorholte, begannen Stiefmutter und Assiatou zu weinen. Der Verlust und die Trauer sass nach wie vor sehr tief in beiden. Es war ein herzzerreissender Anblick, Assiatou so zu sehen. Dünn, abgemagert, appetitlos, weinend, mit Unterleibsbeschwerden und mit Beinen, die sie seit drei Monaten schmerzten. Ein Häufchen Elend. Vor allem in Anbetracht dessen, dass ein Kind oder generell eine Person in Kamerun so viel erträgt und sehr selten weint. Schwester Candida versuchte, eine Vene in Assiatous Arm zu finden, um sie an den Tropf zu hängen. Kein einfaches Unterfangen. Assiatou hatte panische Angst vor der Nadel und Schwester Candida konnte in der vollständig abgemagerten Handoberfläche kaum einen Zugang legen. Der Vorgang dauerte lange. Schwester Scholastica kam hinzu, um Assiatou beizustehen und sie zu trösten, während diese wimmerte und weinte. Als es endlich geschafft war, beruhigte sich die Situation langsam. Ab sofort wird Assiatou einmal pro Monat im Spital vorbei kommen. Damit die Schwestern sofort sehen, wie sich ihr Gesundheitszustand verändert. Zudem überlegten wir eine Wiederaufnahme einer Physiotherapie. Vorerst blieben Stiefmutter und Assiatou in Mayo Darle im Spital. Beide waren ohne Ersatzkleider angereist und auch kein Essen hatten sie dabei. Die Mutter musste ihren Ehemann per Telefon um Erlaubnis bitten, um mit Assiatou für zwei Nächte in Mayo Darle bleiben zu dürfen. Seine erste Frage an die Frau war, ob Nassara (die Weissen) noch da sind. Damit dieser sein Einverständnis gab, liessen wir ihm mitteilen, die Tochter hänge bereits am Tropf und sicherten zu, dass wir jegliche Kosten übernehmen. Daraufhin willigte er ein. Nur weil wir da waren...
(Einige Stunden später:) ...Assiaous Gesundheit liess uns keine Ruhe und wir gingen zurück ins Spital, um nach der Kleinen zu sehen. Nebst Assiatou lagen eine Hand voll schwer kranker Patienten in ihren Zimmern. Die Angehörigen sassen draussen am Boden auf ihren Teppichen und waren im Gebet versunken. Wie immer hatte es viele Leute und man weiss nicht, wer krank ist und wer Angehörig ist. Assiatou lag zugedeckt mit ihrem Wickelrock im Bett und dämmerte im Halbschlaf, am Tropf hängend. Die Stiefmutter sorgte gut für sie und wir merkten, dass ihr trotz allen Schwierigkeiten etwas an ihr liegt. Die Frau hat selbst viele eigene Sorgen. Schwester Scholastica organisierte für die beiden das Abendessen und Kleider, da sie ohne irgendwelche eigenen Dinge angereist gekommen waren...
(Am Abend vor unserer Abreise:) ...Bevor wir ins Bett gingen wollten wir nochmals kurz nach Assiatou schauen und gingen um 22 Uhr zu Fuss durch die Dunkelheit ins nebenan liegende Spital. Assiatou schlief und wir verabschiedeten uns von ihr und ihrer Stiefmutter. Schweren Herzens mussten wir sie hier zurücklassen. Doch wir wussten, dass sie in guten Händen ist und unsere Sisters für sie sorgen. Wir hofften einfach, dass es ihr bald besser geht, während wir beide die Kleine streichelten und uns der Abschied richtig schwer fiel. Sie war eines «unserer» Kinder, wie wir es zu Hause jeweils erzählen. Ein Kind, das ohne uns sich selbst überlassen und längst in Vergessenheit geraten wäre...»